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Richtig stillen: Worauf es beim Stillen wirklich ankommt

Trotz riesiger Vorfreude ist schwanger sein nicht immer leicht, denn werdende Mütter haben viele Fragen. Welcher Vorname? Welches Babybettchen? Welche Wickelmethode? Und vor allem: Stillen, aber wie? Zumindest darauf kann unser Familienblog Antwort geben, denn die Vorsitzende von La Leche Liga Deutschland e.V., Sibylle Zavala, gibt nicht nur wertvolle Tipps, sondern räumt im Gespräch mit Tamara von Fairwindel.de auch mit vielen Mythen und Vorurteilen rund um das Thema Stillen auf.

“La Leche Liga bietet Müttern und Familien kostenlose Stillberatung.”

Tamara: Liebe Sibylle, schön, dass wir dieses Interview heute führen dürfen! Für alle, die La Leche Liga bisher noch nicht kennen: Worin besteht eure Arbeit?

Sibylle: La Leche Liga bietet Müttern und Familien kostenlose Stillberatung, die ein breites Themenspektrum abdeckt: Anlegepositionen, die ersten Stunden und Tage nach Geburt, wunde Brustwarzen, die Sorge über eine ausreichende Milchmenge und Abstillen. Wir beraten aber auch zu anderen Themen rund um das Muttersein, beispielsweise wie die Vereinbarkeit von Stillen und Beruf funktionieren kann. Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass viele Frauen, die den Spagat zwischen Stillkind und Karriere schaffen wollen, es nicht immer leicht haben. Oft ist nicht bekannt, dass Stillen während der Arbeitszeit gesetzlich ermöglicht wird. Auch der Eintritt in die Kita braucht nicht zum Abstillgrund zu werden. Zu diesen und anderen Schwerpunkten findet sich auf unserer Webseite viel Wissenswertes. Darüber hinaus bieten wir Infoblätter zu verschiedenen Themen kostenlos zum Download an, wie beispielsweise zur Rolle des Vaters oder zum Umgang der Großeltern mit Stillen. Besonders hilfreich ist die Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit unseren Stillberaterinnen vor Ort. Aufgrund der aktuellen Situation bieten wir Online-Stillgruppen an, sodass überregionale Beratungen möglich sind, wenn unter einer bestimmten Postleitzahl keine Beraterin verfügbar ist. Derzeit nutzen auch Familien aus Österreich und der Schweiz dieses Angebot, ergänzend zu den Angeboten der La Leche Liga in diesen Ländern.

“Muttermilch ist ein lebendes Getränk.”

T: Ein sehr breites Beratungsangebot also, das im gesamten deutschsprachigen Raum genutzt wird. Das ist beeindruckend! Lass uns am besten mit einer allgemeinen Frage beginnen: Es heißt, Stillen sei das Beste für das Baby. Ist das wirklich so?

S: Allgemein kann man sagen, das Stillen aus verschiedenen Gründen den besten Start ins Leben ermöglicht. Zum einen ist die Zusammensetzung der Milch optimal auf das Kind abgestimmt. Das heißt konkret, dass sich die Muttermilch ständig verändert: im Laufe der Stillmahlzeit, des Tages und auch im Laufe der gesamten Stillzeit. Zum anderen ist Muttermilch so besonders, weil sie ein „lebendes Getränk“ ist. Sie enthält nämlich Antikörper, also Abwehrstoffe gegen Krankheitserreger. Vor allem in den ersten Tagen nach der Geburt hat Muttermilch sehr hohe Konzentrationen davon und bietet damit einen hohen Infektionsschutz. Gestillte Kinder erkranken deshalb seltener an Infektionen des Magen-Darm-Traktes oder des Mittelohrs. Auch ihr Risiko für Diabetes, Fettleibigkeit und Allergien ist geringer. Natürlich sind auch gestillte Kinder manchmal krank, aber selbst hier hat Stillen Vorteile. Der Körper der Mutter reagiert auf die Krankheitserreger, bildet dagegen Antikörper und überträgt sie beim nächsten Stillen auf das Kind. Aus diesem Grund erholen sich gestillte Kinder schneller. Muttermilch ist auch ziemlich praktisch: sie ist stets dabei, immer steril und hat genau die richtige Temperatur. Und nicht nur das Kind, sondern auch die Mutter profitiert gesundheitlich vom Stillen. Die Rückbildung der Gebärmutter nach der Geburt wird beschleunigt, Eisenmangel wird vorgebeugt und das Risiko für Brust- und Eierstockkrebs sinkt.

“Stillen ist keineswegs nur Nahrung.”

T: Das ist wirklich beeindruckend! Hinzu kommt noch, dass Stillen mehr ist, als „nur“ Essen, denn nicht umsonst spricht man von einer „Stillbeziehung“ zwischen Mutter und Kind, oder?

S: Richtig, Stillen ist keineswegs nur Nahrung. Der Aspekt des Beziehungsaufbaus zwischen Mutter und Kind lässt sich sogar wissenschaftlich zeigen. Bei beiden wird nämlich während des Stillens das Bindungshormon Oxytocin ausgeschüttet. Das reduziert Stresshormone, führt zu Entspannung und fördert die emotionale Bindung. Die Entstehung dieser Bindung basiert aber auch auf Körperkontakt. Dadurch können Mütter, die nicht Stillen, durch Tragen und Kuscheln diese Nähe ebenso herstellen. Stillen ist also nicht per se Voraussetzung ist für eine sichere Mutter-Kind-Bindung. Das finde ich wichtig zu betonen.

“Fast jede Mutter hat die biologischen Voraussetzungen zum Stillen.”

T: Richtig, denn sonst würde das Frauen, die nicht Stillen ziemlich unter Druck setzen. Das führt auch schon zur nächsten Frage: Kann generell jede Mutter Stillen oder kann es Umstände geben, die das Stillen unmöglich machen?

S: Grundsätzlich ist es so, dass fast jede Mutter die biologischen Voraussetzungen hat, zu stillen. Es gibt aber Erkrankungen oder körperliche Besonderheiten, die das Stillen über kurz oder lang verhindern. Diese sind zum Glück sehr selten und betreffen ungefähr ein bis drei Prozent aller Frauen. Warum das Stillen häufig nicht klappt, liegt vielmehr daran, dass verschiedene Störfaktoren die Stillbeziehung negativ beeinflussen. Hierzu können zählen: mangelnder Rückhalt in der Familie, Stress, fehlende kompetente Unterstützung in den ersten Stunden und Tagen nach der Geburt oder nicht stillfreundliche Geburtspraktiken. Auch traumatische Erlebnisse können den Stillerfolg verhindern. Ich sage immer, dass Stillen wie Tanzen ist: Manche Paare finden sich, legen los und es klappt einfach. Bei den meisten von uns ist Stillen aber ein Lernprozess, der liebevolle Begleitung und Anleitung braucht.

“Stillen ist vor allem gesellschaftlich geprägt.”

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Foto: pixabay.com

T: Nochmal zum Stichwort Stillhindernisse: Kann man allgemein sagen, dass es Frauen in den Industrienationen schwieriger haben beim Stillen, weil sie beispielsweise wieder in den Beruf einsteigen und es besonders im öffentlichen Raum wenig Rückzugsmöglichkeiten, dafür aber viele Tabus gibt?

S: Eine solche Verallgemeinerung ist tatsächlich möglich, wenn westliche Industrienationen mit Gesellschaften verglichen werden, in denen Stillen selbstverständlicher im Alltag verankert ist. Aber auch innerhalb der Industrienationen unterscheiden sich die Stillraten sehr stark. Das beweist, dass Stillen vor allem gesellschaftlich geprägt ist. So verschieden die Länder hinsichtlich Religion, Kultur, Bildung und Gesundheitssystem sind, so sehr unterscheiden sie sich auch im Umgang mit Stillen. Gemeinsam ist ihnen lediglich, dass die Stillraten in allen Industrienationen im letzten Jahrhundert stark zurückgegangen sind. Hierfür ist vor allem die künstliche Säuglingsnahrung verantwortlich, die als vermeintlich „fortschrittlichere“ Ernährungsvariante vermarktet wurde. Es folgten zahlreiche Studien und nationale Programme, um wieder ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Formulanahrung nicht gleichwertig mit Muttermilch ist.

T: Ich könnte mir vorstellen, dass auch La Leche Liga sehr daran interessiert ist, das Stillen in den Industrienationen gesellschaftsfähiger zu machen?

S: Indirekt. Wir sind jedenfalls sehr daran interessiert, Mütter bei allen Fragen rund um das Thema Stillen zu unterstützen. Wir stellen Informationen bereit zu sämtlichen Teilaspekten, nicht nur zu „technischen“, wie beispielsweise Schmerzen beim Stillen, wunde Brustwarzen oder Beikosteinführung. Denn viele Faktoren beeinflussen die Stillbeziehung. Auch mangelnde emotionale Unterstützung wirkt sich leider schnell negativ aus. Genau darauf versuchen unsere Stillberaterinnen, die alle selbst Mütter sind, einzugehen. Für die Beratung spielt auch immer eine Rolle, wie die individuelle Lebenswirklichkeit der Familie aussieht.

“Säuglinge sollten im ersten Halbjahr ausschließlich gestillt werden.”

T: Am Stichwort Beikost möchte ich gerne einhaken. Die WHO empfiehlt, 6 Monate lang voll zu stillen und dann allmählich feste Nahrung mit anzubieten. Viele Frauen setzen das mit dem Beginn des Abstillens gleich. Gibt es eine wissenschaftliche Auffassung darüber, wie lange Menschenkinder artgerechter Weise gestillt werden?

S: Die WHO und auch La Leche Liga geben maßgeblich drei Empfehlungen für optimales Wachstum, Gesundheit und den wechselnden Nährstoffbedarf von Babys und Kleinkindern. C Nach der Einführung von Beikost bleibt Muttermilch die Hauptnahrung im gesamten ersten Lebensjahr. Dann wird empfohlen, nach Bedarf zumindest bis zum zweiten Geburtstag weiterhin zu stillen und darüber hinaus, so lange Mutter und Kind es möchten. Diese Empfehlungen gelten übrigens unabhängig vom Entwicklungszustand oder Gesundheitssystem eines Landes, also auch für westliche Industrieländer. Die physiologische, artspezifische Stilldauer von uns Menschen liegt zwischen zweieinhalb und sieben Jahren, in diesem Zeitraum würden sich Menschenkinder also von selbst abstillen. Eine Stilldauer von drei Jahren gilt in vielen Gesellschaften heutzutage noch als völlig normal.

T: Würde man also nach drei Jahren von „Langzeitstillen“ sprechen, oder wie ist das definiert?

S: Langzeitstillen ist tatsächlich ein spannender Begriff, es gibt nämlich keine einheitliche Definition. Der Begriff wird verwendet, wenn Kinder über das „übliche“ Maß hinaus gestillt werden. Was jedoch „üblich“ ist, variiert sehr stark von Land zu Land. In Deutschland wird meist ab einer Stilldauer von 15 Monaten von Langzeitstillen gesprochen. In anderen Ländern erst ab dem Kindergartenalter von etwa drei Jahren – die Spannbreite ist also sehr groß.

“Mit Liebe kann nicht verwöhnt werden.”

T: Heißt das auch, dass man ein Kind nicht „zu lange“ Stillen kann? Oder gibt es tatsächlich Belege dafür, dass die Entwicklung zur Selbständigkeit durch eine „zu enge“ bzw. „zu lange“ Stillbeziehung behindert wird?

S: Nein, das ist eine reine Behauptung, die auf keinerlei wissenschaftlich gesicherten Fakten basiert. Biologisch gesehen gibt es keine zu lange Stilldauer. Stillen ist eine Form von Zuwendung, bei der das Kind sehr viel Nähe, Sicherheit und Geborgenheit erfährt. Und mit Liebe kann nicht „verwöhnt“ werden. Bindungen werden nicht zu eng, weil eine Mutter vermeintlich zu lange stillt. Ebenso wenig werden Beziehungen zu eng, wenn Eltern ihr Kind küssen, es umarmen oder ihm vorsingen. Bindungen werden dann zu eng, wenn dem Kind Freiräume fehlen zum Entdecken, Experimentieren und Ausprobieren. Insofern ist es eher umgekehrt: Kinder, die im ersten Lebensjahr ein starkes Urvertrauen aufbauen sind später oft selbständiger, weil sie sich trauen, die Welt zu entdecken. Sie wissen, sie können jederzeit in den sicheren Hafen zurück.

T: Danke, sehr schön erklärt! Nochmal zu einem anderen Thema: Eignet sich Stillen zur Empfängnisverhütung?

S: Dir kurze Antwort lautet: Unter bestimmten Bedingungen ja – aber nicht zu hundert Prozent. Der physiologische Mechanismus besteht darin, dass häufiges Stillen einen Eisprung und damit eine Menstruation verhindert. Je nach Intensität und Häufigkeit des Stillens kann die Unterdrückung des Eisprungs Monate bis Jahre andauern. Jedoch kann bereist eine kurzzeitige Verringerung der Stillfrequenz einen Eisprung begünstigen, auch ohne, dass die Menstruation schon wieder eingesetzt hat. Zudem gibt es von Frau zu Frau starke Unterschiede. Stillen darf also nicht als alleiniges Verhütungsmittel herangezogen werden.

“Stillen erhöht weder das Risiko für Fehlgeburten, noch für Frühgeburten.”

T: Und angenommen, eine Frau wird schwanger, während sie stillt: Wird dadurch das Risiko einer Fehlgeburt erhöht? Immerhin sollen ja durch Oxytocin Kontraktionen der Gebärmutter ausgelöst werden?

S: Nein, diese Auffassung ist wissenschaftlich nicht haltbar, aber sie gehört zu den Mythen rund um das Stillen, die sich hartnäckig halten. Eine erneute Schwangerschaft – vorausgesetzt, sie verläuft normal und stabil – ist kein Abstillgrund. Stillen erhöht weder das Risiko für Fehlgeburten noch für Frühgeburten. Die Kontraktionen der Gebärmutter durch Oxytocin-Ausschüttung beim Stillen sind sehr leicht und kommen auch beim Geschlechtsverkehr mit dem Partner vor, den man während der erneuten Schwangerschaft hat. Auch hier wird nämlich dieses Hormon ausgeschüttet und es kommt zu minimalen Kontraktionen. Die sind aber nicht ausreichend, um eine Fehlgeburt auszulösen. LLL hat übrigens ein Infoblatt zum kostenlosen Download, wo Mythen und Ammenmärchen rund um das Stillen aufgeklärt werden.

“Bei der Milchmenge bestimmt die Nachfrage das Angebot.”

T: Das ist ja beruhigend, vielen Dank für die Erklärung! Angenommen eine Mutter stillt während der erneuten Schwangerschaft und darüber hinaus, spricht man, soweit ich weiß, von „Tandemstillen“. Was genau verbirgt sich hinter diesem Begriff?

S: Beim Tandemstillen werden zwei unterschiedlich alte Geschwister gleichzeitig gestillt. Bei einer normal verlaufenden Schwangerschaft und einem gesunden Neugeborenen ist Tandemstillen problemlos möglich. Die Produktion der Milchmenge wird durch die Stimulation gesteuert. Die Nachfrage bestimmt also das Angebot. Je mehr getrunken wird, umso mehr Milch wird gebildet. So können beispielsweise Mütter von Zwillingen genug Milch für beide Babys produzieren. Auch ältere Geschwister mit einer größeren Trinkmenge können bedenkenlos mit gestillt werden, wenn einige Details beachtet werden. Jedoch wird häufig beobachtet, dass sich ältere Kinder während einer erneuten Schwangerschaft von selbst abstillen, weil sich der Geschmack der Muttermilch in dieser Zeit ändert. Damit sowohl Tandem- als auch Langzeitstillen gut funktionieren, bieten wir eigens Online-Stillgruppen für diese Zielgruppen an.

T: Das ist ein guter Tipp! Abschließend hätte mich noch eine Sache interessiert: Was würdest du dir zum gesellschaftlichen Umgang mit dem Thema Stillen für die Zukunft wünschen?

S: Ich würde mir wünschen, dass Stillen in der Öffentlichkeit das normalste der Welt wird. Ich wünsche mir ein Verständnis dafür, dass es beim Stillen um die Bedürfnisse unserer Kinder geht, und auf die sollten wir immer und überall eingehen dürfen.

T: Vielen Dank für das Gespräch!

Weitere Infos zum Thema Stillen findet ihr auf der Homepage von La Leche Liga Deutschland e.V. und in deren Webshop.

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